Beim Denken an den Mitarbeiter Herr Müller ist die Führungskraft Herr Schmidt fast nur noch genervt. Ständig widerspricht Herr Müller, hinterfragt in Meetings die Ideen des Chefs und bringt eigene Vorschläge. Es ist einfach anstrengend mit ihm. Eigentlich ist Herr Müller ein guter Experte, wird von den Kunden akzeptiert und arbeitet sehr selbstständig, aber das Verhalten untergräbt die Autorität von Herrn Schmidt. Es bleibt dem Chef nichts anderes übrig, als ein Mitarbeitergespräch anzusetzen, in dem er das Verhalten thematisieren wird.
Selbst die Terminfindung gestaltet sich schwierig. Das Gespräch ist Freitag um 15 Uhr verabredet. Eine halbe Stunde vorher ruft Herr Müller an und will den Termin verschieben, weil das Gespräch mit dem Kunden länger dauern würde. Jetzt reicht es dem Chef und er besteht darauf, dass Herr Müller spätestens um 16 Uhr erscheint.
Natürlich hat Herr Schmidt das Gespräch vorbereitet. Er hat die Situationen notiert, in denen ihm Handlungen und Aussagen des Mitarbeiters unangenehm aufgefallen sind und welche Verhaltensänderungen er erwartet. Kurz vor 16 Uhr kommt Herr Müller und erzählt mit Begeisterung von dem neuen Auftrag, den der Kunde gerade erteilt hat.
Herr Schmidt will jetzt aber endlich zur Sache kommen und beginnt damit, dass er sich eine gute Zusammenarbeit mit seinen Mitarbeitern wünscht. Nun sei ihm am Verhalten von Herrn Müller einiges aufgefallen, worüber er ihm Feedback geben möchte. Mit einem Kopfnicken stimmt Herr Müller zu und sagt, dass ihm Feedback wichtig ist. Nun beginnt Herr Schmidt damit, die beobachteten Situationen mit den Respektlosigkeiten von Herrn Müller zu beschreiben und das gewünschte Verhalten zu erläutern. Herr Müller ist sehr konzentriert. Entgegen seiner normalen lebendigen Eloquenz sagt er wenig, fragt ab und zu nach Details und sagt, dass er sein Verhalten – wenn es der Wunsch ist – anpassen wird.
In den folgenden Monaten stellt Herr Schmidt fest, dass sich Herr Müller in Besprechungen sehr angenehm verhält. Er ist froh, dass sein Mitarbeitergespräch so gut gefruchtet hat.
8 Monate nach dem Feedback-Gespräch bittet Herr Müller um ein Gespräch mit Herrn Schmidt. Zwischenzeitlich hatte es keine Mitarbeitergespräche gegeben, es gab für Herrn Schmidt keinen Bedarf, da Herr Müller offensichtlich verstanden und umgesetzt hat, worauf es Herrn Schmidt ankommt. Er kann sich nun gut vorstellen, Herrn Müller ein größeres Projekt mit mehr Verantwortung zu übertragen.
Im folgenden Gespräch eröffnet Herr Müller seinem Chef, dass er sich für eine neue Tätigkeit in einer anderen Firma entschieden hat und dass er zum nächstmöglichen Termin kündigt. Er übergibt Herrn Schmidt ein Kündigungsschreiben mit der Bitte, ihm mitzuteilen, an wen er seine Aufgaben übertragen soll. Da Herr Müller noch Urlaub und ein großes Überstundenkonto hat, bleiben gerade einmal 2 Wochen, die Herr Müller noch im Unternehmen verbleibt. Herr Schmidt ist geschockt und reagiert sehr verärgert, weil er sich hintergangen und betrogen fühlt. Auf seine Frage, warum Herr Müller kündigen würde, sagt ihm Herr Müller, dass der Weg zur Arbeit dann kürzer wäre. Es ist unmöglich, diesen Experten so kurzfristig zu ersetzen. Der Mitarbeiter hat ihm noch nicht mal eine Chance gegeben.
Abends beschwert er sich bitter bei seiner Frau über diesen undankbaren Mitarbeiter. Ihr hatte er auch von dem 1. Gespräch vor einigen Monaten erzählt. Ihn erzürnt vor allem die Hilflosigkeit, in die ihn Herr Müller nun gebracht hat. Dabei hatte er gerade noch letzte Woche mit seinem eigenen Chef über das neue Projekt und den Einsatz von Herrn Müller gesprochen. Wie steht er denn nun da?
Nun fragt ihn seine Frau, ob es eigentlich dass Führungskräfte-Coaching noch gibt, von dem er ihr erzählt hatte. Die Personalabteilung macht das Angebot, mit einem externen Coach zu arbeiten. Er fragt sie, warum sie das wissen will und sie fragt ihn, ob es nicht vielleicht Sinn machen würde, mit so jemandem zu besprechen, was da passiert sei, wie er damit umgehen soll und wie solche Fälle in der Zukunft vermieden werden können. Sein erster Impuls ist: der oder die hat ja keine Ahnung von der Situation, das ist Zeitverschwendung.
Nach einigen Tagen fragt er aber doch beim Personalchef nach, ob es das Coaching noch gibt. Dieser sagt ihm, dass es die Möglichkeit gibt, mit einem externen Profi in ca. 2-stündigen vertraulichen Gesprächen zu reflektieren und Lösungen zu erarbeiten.
Im 1. Termin hört die Frau, die selbst als Führungskraft in einem Industriebetrieb gearbeitet hat, viel zu. Sie will nicht nur wissen, was vorgefallen ist, sondern auch, wann und worüber er so enttäuscht war und ist. Sie fragt ihn, was sich nach den Coachingterminen geändert haben soll und woran er merken würde, dass sein Ziel erreicht wäre. Das ist richtig anstrengend. Er will nicht wieder „so kalt erwischt“ werden.
In den folgenden Gesprächen schafft es Herr Schmidt, sich auch in die Lage von Herrn Müller zu versetzen. Er erkennt, dass Herr Müller sein Verhalten zwar angepasst hat, dass Herr Schmidt Herrn Müller aber auch wohl stark demotiviert hat. Herr Schmidt merkt, dass schon Mut erforderlich ist, um über so etwas nachzudenken und dass die Struktur und das Gespräch im Coaching ihn dabei sinnvoll unterstützt. Nach 6 Gesprächen endet das Coaching und beim Ausstand von Herrn Müller schafft es Herr Schmidt sogar, dessen Abschied ehrlich zu bedauern und ihm eine jederzeit offene Tür anzubieten. Hinten herum hört er später, dass seine Mitarbeiter diese Größe stark fanden.
Er hat sich vorgenommen, nun regelmäßig und nicht nur in Problemsituationen mit seinen Mitarbeitern Gespräche zu führen. Außerdem wird er das Coaching in Zukunft auch nutzen, bevor eine gravierende Problemsituation entsteht.